Ist Urlaub ein Grundrecht?
Das österreichische Verfassungsrecht kennt kein Grundrecht auf Urlaub. In vielen anderen europäischen Verfassungen ist der Urlaubsanspruch aber verfassungsrechtlich verankert. So zB in der portugiesischen, spanischen und italienischen Verfassung. Bei den anderen europäischen Staaten, deren Verfassungen den Urlaubsanspruch beinhalten, handelt es sich in erster Linie um verhältnismäßig junge Verfassungen aus den 1990er Jahren, wie unter anderem jene von Kroatien, Polen oder Rumänien.
Warum kann man dennoch von einem „Grundrecht auf Urlaub“ sprechen?
In der Europäischen Union ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) zu beachten. Sie zählt zum Primärrecht und verfügt gegenüber dem nationalen Recht über Anwendungsvorrang. Artikel 31 Abs 2 Grundrechtecharta statuiert das sogenannte „Recht auf bezahlten Jahresurlaub“. Dabei handelt es sich nach Ansicht des EuGH und der überwiegenden Meinung im Schrifttum um ein Grundrecht.
Diese Einstufung erweist sich meiner Ansicht nach als zutreffend. Bei der Bezeichnung als „Recht“ handelt es sich zwar nur um ein Indiz für die Grundrechtseigenschaft, doch im Gegensatz zu anderen, als Grundsatz einzuordnenden Artikeln fehlt jegliche Bezugnahme auf die Union oder ein sonstiger Verweis auf die Ausgestaltung durch das Recht der Union bzw der Mitgliedstaaten. Berücksichtigt man ferner die Erläuterungen zur Grundrechtecharta und legt Artikel 31 Abs 2 Grundrechtecharta historisch aus, zeigt sich, dass dem Begriff des bezahlten Jahresurlaubs ein vierwöchiges Mindestausmaß inhärent ist. Auf Unionsebene wurde der Begriff stets mit vier Wochen beziffert. Außerdem hätte der europäische Normgeber das Recht auf bezahlten Jahresurlaub nicht in die Grundrechtecharta aufgenommen, wenn dieses nicht zumindest ein Mindestausmaß der zu gewährenden Urlaubsdauer festlegen würde. Um nicht ins Leere zu führen, muss eine der Gewährung von Schutz dienende Norm schließlich auch ein Mindestniveau an Schutz festlegen.
Sind denn in der Grundrechtecharta nicht automatisch nur Grundrechte geregelt?
Nein, die Grundrechtecharta besteht aus Grundrechten und Grundsätzen. Grundsätze vermitteln bloß objektiv-rechtliche Verpflichtungen, die Einzelpersonen nicht geltend machen können. Grundrechte gewähren demgegenüber materielle subjektive Rechte, auf die sich Einzelne berufen können. Die Unterscheidung ist außerdem vor allem für die Stärke der Bindung von Union und Mitgliedstaaten relevant. Grundsätze bedürfen erst der Umsetzung bzw Ausgestaltung, wobei der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten die konkrete Ausgestaltung weitgehend freisteht.
Was bedeutet die Qualifikation des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub als Grundrecht?
Das durch das Recht auf bezahlten Jahresurlaub gewährte Schutzniveau verpflichtet die Union im Rahmen ihrer Zuständigkeit nach den Verträgen und die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Artikel 7 Arbeitszeitrichtlinie, der das Recht auf bezahlten Jahresurlaub auf sekundärrechtlicher Ebene regelt und konkretisiert. Denn die Mitgliedstaaten sind nur bei der Durchführung von Unionsrecht an die Grundrechtecharta gebunden. Dazu reicht es bereits aus, dass im betreffenden Regelungsbereich ein sekundärrechtlicher Akt besteht.
Eine der wesentlichsten Folgen der Grundrechtsqualifikation ist die grundrechtskonforme Auslegung. Im Gegensatz zu Grundsätzen sind Grundrechte unmittelbar wirksam. Das heißt einerseits muss das Sekundärrecht und andererseits das nationale Recht im Anwendungsbereich der Grundrechtecharta grundrechtskonform ausgelegt werden. Folglich müssen alle nationalen Vorschriften, die Artikel 7 Arbeitszeitrichtlinie umsetzen, grundrechtskonform ausgelegt werden. Nationale Bestimmungen, die nicht im Einklang mit dem Wesensgehalt des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub ausgelegt werden können, müssen unangewendet bleiben.
Wie weit geht diese Verpflichtung?
Die Verpflichtung betrifft jeweils den Wesensgehalt des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub. Das bedeutet, der mitgliedstaatliche Gestaltungsspielraum ist durch diesen begrenzt. Allerdings kann dies nur für den unionsrechtlichen Mindesturlaub von vier Wochen gelten. Mit einem darüberhinausgehenden Urlaubsanspruch wird kein Unionsrecht mehr durchgeführt, weshalb die Grundrechtecharta auf die darüber hinausgehende, im österreichischen Urlaubsgesetz 1976 vorgesehene fünfte und allenfalls sechste Urlaubswoche grundsätzlich nicht mehr anwendbar ist. Der Wesensgehalt des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub erweist sich durch die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH jedoch als sehr weit und infolgedessen der Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten als beschränkt.
Wie wirkt sich das in der Praxis aus?
Dazu gibt es viele Beispiele, die ich im Rahmen meiner Dissertation untersuche. Als aktuelles Beispiel sei die sogenannte „Urlaubssorgepflicht“ des Arbeitgebers genannt. War der Arbeitnehmer nicht tatsächlich in der Lage, seinen Urlaub zu beanspruchen, kann sein Urlaubsanspruch nach Ansicht des EuGH nicht erlöschen. Den Arbeitgeber trifft diesbezüglich die Obliegenheit, den Arbeitnehmer rechtzeitig und unter Hinweis auf den drohenden Verlust zur Inanspruchnahme seines Urlaubs aufzufordern. Dafür trägt der Arbeitgeber auch die Beweislast. Da eine solche Obliegenheit der Verjährungsbestimmung des Urlaubsgesetzes 1976 nicht entnommen werden kann, ist diese nicht grundrechtskonform interpretierbar. Wie jüngst auch der OGH entschied, ist die Bestimmung daher hinsichtlich des unionsrechtlich garantierten Mindesturlaubsanspruchs von vier Wochen unangewendet zu lassen und dessen Verjährung ist nicht möglich, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig zum Urlaubsverbrauch auffordert und auf dessen sonstige Verjährung hinweist.