Mindestentgelte sind in Österreich im Grunde Sache der zwischen den Sozialpartner_innen ausverhandelten Kollektivverträge, die regelmäßig für ganze Wirtschaftszweige zur Anwendung kommen. Der Staat – Stichwort gesetzlicher Mindestlohn – hält sich hier – etwa im Unterschied zu Deutschland – bezüglich der Entgeltfestsetzung zurück, zumindest weitgehend: Denn es gibt Bereiche, in denen auch in Österreich Mindestentgelte behördlich festgelegt werden. Diese im Schrifttum bislang wenig untersuchte, für den Erfolg des Wirtschaftssystems aber umso bedeutendere Materie beleuchtet Nora Melzer in ihrer neuen Publikation „Mindestlohntarif“.
REWI: Können Sie Beispiele für Bereiche nennen, in denen Mindestentgelte behördlich und nicht durch Kollektivvertrag festgesetzt sind? Wie geschieht die Festsetzung?
Nora Melzer: Behördlich festgelegte Mindestentgelte, also solche, die die Arbeitgeber_innen ihren Arbeitnehmer_innen jedenfalls zahlen müssen, ohne dass die einzelne Arbeitnehmerin dies mit der Arbeitgeberin erst ausverhandeln müsste, gibt es vor allem im sogenannten Sozialbereich oder 3. Sektor, d.h. für Arbeitnehmer_innen in der Betreuung und in der Pflege, aber auch im Bereich der Aus- und Weiterbildung, dann bei verschiedenen Haushaltstätigkeiten wie sie etwa Hausbesorger_innen, Hausgehilf_innen oder Au-pairs verrichten und schließlich im Sport, z.B. für Lehrlinge, die den Beruf eines_r Fitnessbetreuers_in erlernen.
Die Festsetzung erfolgt durch eine wenig bekannte Behörde des Bundes, das Bundeseinigungsamt, die unter Mitwirkung der Sozialpartner_innen die Verordnungen mit den Tarifen, d.h. den Entgelttabellen, für die eben genannten Bereiche erlässt. Diese Verordnungen haben besondere Bezeichnungen erhalten: Es handelt sich dabei vor allem um die Satzung, das Lehrlingseinkommen – dieses war bis 2020 als Lehrlingsentschädigung bekannt – und eben den Mindestlohntarif, der Gegenstand meiner publizierten Habilitation ist.
REWI: Wieso kam es eigentlich dazu, dass der Staat ab den 1950er Jahren mit der Festsetzung solcher Mindestentgelte begann? Wodurch konnten diese Instrumente in der Folge für den Erfolg des Wirtschaftssystems große Bedeutung erlangen?
Nora Melzer: Nach dem 2. Weltkrieg wurden einige Zeit lang die Mindestentgelte generell von der Zentrallohnkommission festgesetzt, für alle Bereiche, auch in jenen, in denen bereits die Sozialpartner_innen wieder errichtet oder belebt worden waren. Letztere übernahmen – nach der Schaffung des Kollektivvertragsgesetzes 1947 – die Entgeltfestsetzung im Wege autonomer Verhandlungen und Abschlüsse von Kollektivverträgen. Allerdings können Kollektivverträge auf Arbeitgeber_innen-Seite nur die Mitglieder des abschließenden Verbandes binden; in all jenen Wirtschaftsbereichen, in denen keine Arbeitgeber_innen-Verbände bestanden, konnten keine Kollektivverträge abgeschlossen werden. Die Arbeitnehmer_innen der verbandslosen Arbeitgeber_innen mussten also individuell – ohne den Rückhalt des Kollektivs – ihre Entgelte ausverhandeln. Mit dem Mindestlohntarif wurde ein Instrument geschaffen, das diese Lücke schließt.
Der Erfolg unseres Wirtschaftssystems ist – unter anderem – eine Mischung aus Arbeitnehmer_innen mit guten Arbeitsbedingungen, gerechten Entgelten und hoher Kaufkraft. Die Arbeitsrechtsordnung ist ein Netz aus verschiedenen Instrumenten, die einander ergänzen. Autonome Vereinbarungen in Kollektivverträgen durch Verbände stehen an erster Stelle, gefolgt durch die teilautonome Einbeziehung in solche kollektiven Verträge durch Satzungen und schließlich die heteronome Festsetzung, also durch den Staat, aber eben erst dort, wo sich die Verbände nicht (freiwillig) organisieren.
REWI: Sind Sie bei Ihren Recherchen auf für Sie Überraschendes gestoßen?
Nora Melzer: Überraschend war für mich, wie stark grundrechtliche und verfassungsrechtliche Positionen berücksichtigt wurden und wie fein das Netz aus Entgeltinstrumenten in Österreich gesponnen ist. Behördliche Entgeltfestsetzung geschieht in Österreich nur auf Antrag der Sozialpartner_innen, d.h. die staatliche Behörde wird hier nicht von sich aus tätig; zudem sind in der Behörde wiederum die Sozialpartner_innen vertreten und wirken an der Erzeugung von Satzungen, Mindestlohntarifen und Lehrlingseinkommen etc. mit.
Die Sozialpartner_innen haben sogar die Möglichkeit, Mindestarbeitsbedingungen – dies schließt Mindestentgelte mit ein – österreichweit und branchenübergreifend im Wege von General-Kollektivverträgen und Generalsatzungen festzulegen. Diese Instrumente haben umfassende und zwingende Wirkung wie ein gesetzlicher Mindestlohn für alle; sie sind aber deutlich flexibler.
REWI: Was erwartet die Leser_innen in Ihrem Buch?
Nora Melzer: Eine Reise durch die kollektive österreichische Arbeitsrechtsordnung mit dem Fokus auf die Player, nämlich die Behörde und die Sozialpartner_innen, und die Besonderheiten der ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente. So ist der titelgebende Mindestlohntarif – wie auch der berühmtere Kollektivvertrag – beispielsweise auch dann noch anzuwenden, wenn er bereits außer Kraft getreten ist.
REWI: Arbeiten Sie schon an Neuem?
Nora Melzer: Ein Jubiläum jagt im Arbeitsrecht das nächste: Der Kollektivvertrag ist eben erst 100 Jahre alt geworden, der Mindestlohntarif wird heuer 70 und das Angestelltengesetz – ein Meilenstein, nicht nur des österreichischen Arbeitsrechts – wird 2021 ebenfalls 100 Jahre alt. Diesen Geburtstag feiern wir mit einer Neuauflage des Kommentars zum Angestelltengesetz, das im Übrigen auch für die Arbeitnehmer_innen der Universitäten zur Anwendung kommt.