Es feierte 2021 seinen 100. Geburtstag. Die darin enthaltenen Regelungen sind so wegweisend, dass sie bis heute die Arbeitswelt prägen. Und ganz frisch zum wichtigsten noch bestehenden Sondergesetz im Arbeitsrecht erschienen ist der Kommentar von Nora Melzer. Die Rede ist vom Angestelltengesetz. Neu im Bereich des Angestelltenrechts ist nicht nur der Kommentar. Auch sonst hat sich einiges getan. Die Mitherausgeberin erzählt uns mehr.
REWI Uni Graz: Was gibt es im Angestelltenrecht Neues?
Nora Melzer: Hier ist vor allem der Bereich Entgeltfortzahlung bei Dienstverhinderung zu nennen. 2017 wurde die Länge der bezahlten Krankenstände bei den Angestellten im Ergebnis verkürzt. Das war und ist eine Änderung, die z.B. auch die Arbeitnehmer:innen an den Universitäten zu spüren bekommen, wenn sie an längerwierigen Krankheiten laborieren (Stichworte: Krebs, Burn-out, psychische Überlastung oder jetzt auch Long Covid). Andererseits gibt es seit der Neuerung 2017 auch für Angestellte eigene Krankenstände, d.h. zusätzlich Ansprüche auf Entgeltfortzahlung von bis zu 8 Wochen, wenn dieser durch einen Arbeitsunfall hervorgerufen wird. Das umfasst nicht nur Körperverletzungen, die beim Arbeiten passieren, sondern auch Verletzungen auf dem Weg zur oder von der Arbeit, selbst wenn die Fahrt durch das Bringen eines Kindes zum Kindergarten oder einen gemeldeten Besuch bei der Hausärztin unterbrochen wird.
Außerdem ist nun ausdrücklich klargestellt, dass sich die:der Arbeitgeber:in auch durch einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses während der Krankheit nicht einfach der noch offenen Entgeltfortzahlungsansprüche gegenüber dem:r Arbeitnehmer:in entledigen kann.
Schließlich ist die europarechtswidrige Regelung, wonach teilzeitbeschäftigte Angestellte, die weniger als 32 Stunden pro Monat arbeiten, nur sehr kurze Kündigungsfristen haben, endlich gefallen. Auch für diese Gruppe von Angestellten, die noch dazu überwiegend weiblich ist, betragen die Kündigungsfristen nunmehr mindestens sechs Wochen.
Welche Ansätze im Angestelltengesetz 1921 waren prägend für die heutige Arbeitswelt?
Ganz prägend war im Angestelltengesetz zunächst der Ansatz, dass die Arbeitgeber:innen die ihnen anvertrauten Angestellten nicht nur für ihre Zwecke ausbeuten dürfen, sondern vielmehr dafür zu sorgen haben, dass deren Arbeitsfähigkeit so lange wie möglich erhalten bleibt: so vor allem über die damaligen Goodies wie Erholungsurlaub oder die Möglichkeit, sich bei Krankheit ordentlich auszukurieren – und zwar bei voller Weiterzahlung des Gehalts. Das war und ist ein extrem sozialer Ansatz. Auch das Konzept der Belohnung der Betriebstreue, also das Anciennitäts- oder Senioritätsprinzip, sticht schon damals beim Angestelltengesetz ins Auge: Je länger jemand arbeitet, desto höher werden die Ansprüche auf Urlaub, bei Erkrankung oder auf die sogenannte Abfertigung-alt. Letztere ist im Übrigen auch ein Kind des Angestelltengesetzes, das zum Ziel hatte, dass nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses noch eine Überbrückungsphase bis zum nächsten Job oder der Pension eingeschoben wird und gleichzeitig die Arbeitgeber:innen nicht leichtfertig Arbeitsverhältnisse auflösen.
Prägend war das Angestelltengesetz auch insofern, als es für eine Arbeitnehmer:innengruppe geschaffen war, die an einer Zeitenwende tätig wurde. Die Einführung oder Erfindung von Kaufhäusern, Schreibmaschinen, Autos, Filmen oder Telefonen hatte die Arbeitswelt bereits entscheidend verändert und neue Tätigkeiten waren entstanden. Das Angestelltengesetz war so etwas wie eine Kodifikation des Arbeitsrechts für diese Modern Times. Seine Grundstrukturen wurden dann – deutlich später – auch für andere Arbeitnehmer:innen-Gruppen übernommen, und seine Konzepte passen – mit Modifikationen – durchaus auch für die aktuell neuen Arbeitsformen wie home office, crowd-work und gig economy. Und damit wären wir bei einem letzten sehr prägenden und nachhaltigen Ansatz des Angestelltengesetzes angekommen, der sich lang gehalten hat – wenn auch zu Recht von vielen kritisiert: Das Angestelltengesetz sah Rechte wie Erholungsurlaub oder länger bezahlte Krankenstände nur für Arbeitnehmer:innen vor, die keine körperliche Arbeit verrichten. Im Anglo-amerikanischen spiegelt sich das noch bei der Bezeichnung „white-collar worker“ wieder, also Arbeitnehmer:innen mit einem weißen Kragen. Für körperlich arbeitende Menschen, die Arbeiter:innen, und das war lange das Gros der Arbeitnehmer:innenschaft, war die Rechtslage deutlich weniger rosig. Und diese mittlerweile altmodisch anmutende Unterscheidung geht im Wesentlichen auch auf das Angestelltengesetz zurück.
Wird die Unterscheidung zwischen Arbeiter:innen und Angestellten noch von Dauer sein? Worin bestehen zurzeit die Unterschiede?
Da hat sich seit der bereits angesprochenen Reform von 2017 sehr viel getan. So wurden nicht nur die bis dato unterschiedlichen Fristen bei Krankenständen angepasst, sondern auch jene bei Kündigung. Für die Verlängerung der Kündigungsfristen der Arbeiter:innen von zwei Wochen oder sogar weniger auf mindestens sechs Wochen gab es allerdings eine Übergangszeit, und – nach einer weiteren Verschiebung – waren dann im Ergebnis mit 1.10.2021 diese Fristen für alle Gruppen von Arbeitnehmer:innen gleich.
Inhaltliche Unterschiede bestehen nach wie vor im Entlassungsrecht, da liegt ein wichtiger Grund, der zur sofortigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses berechtigt, vor, wenn der:die Arbeiter:in einen „unordentlichen Lebenswandel“ hat, mit einer „abschreckenden Krankheit behaftet“ ist oder „unvorsichtig mit Feuer oder Licht“ umgeht. Das ist – nicht nur im Vergleich mit dem Wording für den Angestelltenbereich – doch recht unmodern und teilweise diskriminierend formuliert. Unterschiede bestehen auch noch auf der überbetrieblichen Ebene, weil häufig in einer Branche je ein Kollektivvertrag für die Arbeiter:innen und einer für die Angestellten geschlossen wird. Vergleichbares gilt auf der betrieblichen Ebene mit dem System der getrennten Gruppenbetriebsräte von Angestellten und Arbeiter:innen.
Formell betrachtet bestehen die Unterschiede darin, dass – selbst bei gleichen Rechten und Pflichten – für die einzelnen Arbeitnehmer:innen-Gruppen insbesondere auf der individualarbeitsrechtlichen Ebene unterschiedliche Sondergesetze gelten, z.B. die Gewerbeordnung 1859, das Hausgehilfen- und Hausangestelltengesetz, das Theaterarbeitsgesetz, das Journalistengesetz, das Landarbeitsgesetz 2021 oder eben das Angestelltengesetz.
Mit Spannung beobachteten Sie zu Beginn der Corona-Pandemie Neuerungen im Bereich des Arbeitsrechts. Schlugen sich diese nachhaltig nieder oder waren sie nur von kurzer Dauer?
Der Digitalisierungsschub, den die Pandemie ausgelöst hat, ist immer noch zu spüren und sein Niederschlag im Arbeitsrecht hat sich sogar verstärkt: Rezepte in der Apotheke und Krankschreibungen durch die Hausärztin sind nach wie vor auch digital zulässig, ohne persönliche Kontakte.
Arbeit im Homeoffice oder Tele-Arbeit zuhause ist seit 1. April 2021 im Gesetz – für alle, die nachlesen wollen: in § 2h AVRAG – ausdrücklich verankert. Damit wurde klargestellt, dass Arbeit im Homeoffice einer individuellen Vereinbarung bedarf, also Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in darüber verhandeln und sich auf den Arbeitsort „in der Wohnung“ des:r Arbeitnehmer:in einigen müssen. Einseitige Zuweisungen des:r Arbeitgebers:in, also Versetzungen, ins Homeoffice sind ebenso wenig erlaubt wie ein eigeninitiatives Zuhausebleiben des:r Arbeitnehmers:in, um von dort aus zu arbeiten. Die für die Arbeit im Homeoffice erforderlichen Arbeitsmittel, insbesondere Rechner, Bildschirm, entsprechende Software oder Internetanbindung, aber bei Bedarf eben auch Mikrophone, Kameras, Drucker sowie Systeme betreffend Datensicherheit, hat die Arbeitgeberin bereitzustellen oder einen entsprechenden Aufwandersatz zu leisten. Verletzt sich der:die Arbeitnehmer:in bei der Arbeit im Homeoffice – z.B. durch Stolpern über ein Kabel oder eine Tastatur, die auf den Zehen landet, oder einen Sturz im Haus, am Weg vom Türöffnen für eine Arbeitskollegin zum läutenden Telefon am Arbeitsplatz zuhause – stellt dies einen Arbeitsunfall dar. Diese Regelungen waren ursprünglich nur für die Zeit der Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 eingeführt worden, sind nunmehr aber ins Dauerrecht eingegangen.
Verstärkte Sensibilisierung ist dabei im Übrigen bezüglich der Kontroll- und Überwachungsmechanismen zu bemerken. Immerhin geben die Arbeitnehmer:innen im Zuge von digitaler Arbeit doch sehr intensive Einblicke in ihr Privat- und Familienleben sowie ihre körperliche Befindlichkeit. Vergleichbares gilt aber auch für die Arbeitgeber:innen bezüglich des Zustands der verwendeten Arbeitsmittel oder der Ausstattung eines Unternehmens, aber auch wer die Kund:innen des Unternehmens sind – da geht viel mehr an Informationen an Dritte als früher (so etwa über das GPS, das serienmäßig in allen Autos eingebaut werden soll). Arbeitgeber:innen- und Arbeitnehmer:innen-Seite haben im Bereich des Datenschutzes und der Datensicherheit daher viele gemeinsame Interessen, die es noch mehr als bisher zu verteidigen gilt.
Was erwartet die Leser:innen in Ihrer Publikation?
Eine kompakte, ausgewogene und verständlich ausformulierte Darstellung der Rechte und auch der Pflichten jener Arbeitnehmer:innen, die zur Gruppe der Angestellten gehören – einschließlich so aktueller Themen wie Erkrankung an Covid-19 oder „Quarantäne“ wegen Ansteckungsgefahr, aber auch der Auflösungsvoraussetzungen bei krisenbedingten wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Unternehmens.
Gibt es bereits neue Buchprojekte?
Vor ein paar Wochen ist „Social Security Law in Austria“ bei Wolters Kluwer herausgekommen, in der Reihe International Encyclopaedia of Laws, in der von unserer Fakultät auch Viktoria Robertson publiziert. Damit besteht für englischsprachige Jurist:innen sowie Forscher:innen anderer Disziplinen eine recht umfassende und vor allem aktuelle Möglichkeit, einen Einblick in das österreichische Sozialrecht zu erhalten – und es kann der Internationalisierungsanspruch, den die Universität und die Rechtswissenschaftliche Fakultät Graz an uns Mitarbeiter:innen stellen, erfüllt werden.
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