REWI: Hat die Krise um das Corona-Virus neue „arbeitsrechtliche Gräben“ aufgerissen oder bleibt alles beim Alten?
Günther Löschnigg: Das Corona-Virus hat teils zu Änderungen geführt, die mit dem bisherigen arbeitsrechtlichen Institutionengefüge durchaus konform gehen. Teils sind allerdings Regelungslücken akut geworden, über die jahrzehntelang diskutiert wurde, die aber nie einer ausgewogenen sozialpolitischen Lösung zugeführt wurden.
REWI: Beginnen wir bei den bisher verdrängten Systemlücken. Was muss man sich darunter vorstellen?
Günther Löschnigg: Es gibt sehr klare Bestimmungen bei Leistungsstörungen im Arbeitsverhältnis, wenn es um Krankheit des Arbeitnehmers oder um einen Arbeitsunfall geht. Auch noch relativ klar sind die Entgeltfortzahlungsregelungen bei den sogenannten sonstigen Dienstverhinderungen, wie zum Beispiel bei der Pflege von erkrankten Familienangehörigen oder bei der Teilnahme an einer Hochzeit. Schwierig zu beurteilen sind hingegen Fälle höherer Gewalt wie Überschwemmungen, Vulkanausbrüche (mit Auswirkungen selbst in Österreich) oder länderübergreifende atomare Verseuchungen. Nach § 1155 ABGB hat der Arbeitgeber Naturereignisse zu vertreten und wird entgeltfortzahlungspflichtig, wenn das Ereignis seinem Betriebsrisiko zuzurechnen ist. Nur im Fall der sogenannten neutralen Sphäre – wenn sowohl die Arbeitgebersphäre als auch die Arbeitnehmersphäre und auch die Allgemeinheit betroffen sind – steht dem Arbeitnehmer, der nicht beschäftigt wird, kein Entgelt zu. In der vorigen Woche hätte man eine wie durch den Corona-Virus ausgelöste Pandemie noch als Phänomen der neutralen Sphäre interpretiert. Am Wochenende wurde § 1155 ABGB dahingehend geändert, dass Betriebseinschränkungen und Betriebsschließungen (nur im Zusammenhang mit dem Corona-Virus!) der Arbeitgebersphäre zuzuordnen sind und damit den Arbeitgeber – eine (grundsätzlich zeitlich unbeschränkte) Entgeltfortzahlungspflicht trifft.
REWI: Worin liegt jetzt die systemkonforme oder die systemwidrige Lösung?
Günther Löschnigg: Der Not gehorchend hat man eine punktuelle Lösung für den Anlassfall vorgenommen, anstatt über die momentane Krise hinaus zu agieren. Zugegebenermaßen ist die Zeit für parteipolitisch ausdiskutierte und sozialpartnerschaftlich akkordierte Regelungsmechanismen knapp. Aber zumindest das Phänomen einer Pandemie in allgemeiner Form hätte einer Regelung zugeführt werden können, wenn schon nicht der ganze Problembereich der höheren Gewalt neu gestaltet wird. Vergangenes Unterlassen rächt sich jedenfalls.
REWI: Wird dem Unternehmen von der öffentlichen Hand etwas refundiert?
Günther Löschnigg: Nicht im Sinn einer Automatik. Angekündigt sind jedoch großzügige Unterstützungen für die Unternehmen. Die Anwendung des Epidemiegesetzes, das grundsätzlich einen Vergütungsanspruch der Arbeitgeber gegenüber dem Bund bei Betriebseinschränkungen und Betriebsschließungen vorsieht, wurde aber in diesem Punkt durch das COVID-19-Maßnahmengesetz explizit ausgeschlossen.
REWI: Werden damit die Unternehmen nicht in eine unzumutbare Situation gedrängt?
Günther Löschnigg: Ansatzweise wurde ein sozialpolitischer Kompromiss dadurch erreicht, dass – auch seit dem Wochenende und rückwirkend ab dem 15. März – Arbeitnehmer auf Verlangen des Arbeitgebers Urlaubs- und Zeitguthaben verbrauchen müssen, wenn sie auf Grund von Corona-Virus-Maßnahmen nicht eingesetzt werden können. Das bedeutet, dass der Urlaub nicht vereinbart werden muss, sondern dass der Arbeitgeber ihn einseitig anordnen kann. Diese Möglichkeit der Festlegung des Urlaubs durch den Arbeitgeber ist allerdings auf zwei Wochen des Erholungsurlaubs aus dem laufenden Urlaubsjahr beschränkt. Für Alt-Urlaube und Zeitguthaben sieht das Gesetz zwar keine Einzelgrenzen vor, Urlaubs- und Zeitguthaben zusammen können aber maximal für einen Zeitraum von 8 Wochen angeordnet werden. Beamte und Vertragsbedienstete des Bundes sind insofern begünstigt, als der Arbeitgeber nur maximal zwei Wochen an nicht verfallenen Alt-Urlauben einseitig festsetzen kann.
REWI: Ist dieser Kompromiss ausreichend, wenn sich die Krise über vielleicht mehrere Monate erstreckt?
Günther Löschnigg: Nein, der Deal mit der einseitig angeordneten Konsumation von Urlaubs- und Zeitausgleichsguthaben ist schon deshalb nicht ausreichend, weil unter Umständen weder ein Urlaubs- noch ein Zeitausgleichsguthaben vorhanden ist. Die große Hoffnung besteht zweifellos in der Vereinbarung von Kurzarbeit in der neuen Modellvariante, dh in der Vereinbarung einer Reduktion der Arbeitszeit mit ungleicher Verteilung während eines längeren Durchrechnungszeitraums. Bei diesem von allen Interessenvertretungen konsensual propagierten Modell werden die Arbeitskosten während der Kurzarbeit fast gänzlich vom Arbeitsmarktservice übernommen. Entsprechende Mustervereinbarungen werden von den Interessenvertretungen sehr gut kommuniziert.
REWI: Im Fall der Kurzarbeit muss aber auch irgendwann (zum Beispiel nach 3 Monaten) wieder verstärkt gearbeitet werden. Wenn dies einem Arbeitgeber auch zu riskant ist?
Günther Löschnigg: Ein spezifischer Kündigungsschutz bezogen auf die derzeitige Krise existiert für Arbeitnehmer nicht. Will das Unternehmen kein Kurzarbeitsmodell eingehen, wird sich durch die erwähnte Entgeltfortzahlung des Arbeitgebers der Druck zu kündigen eher erhöhen. Das Kündigungsszenario wird noch bedrohlicher, wenn der Arbeitgeber – der Neuregelung zufolge – offene Urlaubs- und Zeitausgleichsansprüche einseitig in den Zeitraum der Kündigungsfrist verlegen kann.
In der betrieblichen Praxis wurden jedoch anstelle von Kündigungen auch Aussetzungsmodelle mit Wiedereinstellungsklauseln – unter Inanspruchnahme des Arbeitslosengeldes durch die Arbeitnehmer – gewählt. Aus Arbeitnehmersicht ist dies allerdings die ungünstigere Variante im Vergleich zum Kurzarbeitszeitmodell.
REWI: Losgelöst von den Neuregelungen gibt es ja im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise große Rechtsunsicherheit. Wo sehen Sie die größten Probleme?
Günther Löschnigg: Schwierigkeiten ergeben sich zumeist schon bei der Frage, ob ein Arbeitnehmer verpflichtet ist, zu Hause zu arbeiten, wenn es zu betrieblichen Betretungsverboten oder dergleichen kommt. Im Regelfall ist dafür im Arbeitsvertrag nicht vorgesorgt, sodass extrem schwierige Abwägungsfragen in Hinblick auf die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen entstehen. Man muss sich dies etwa anhand des in der Arbeitsrechtdogmatik verwendeten Begriffspaars der Fürsorgepflicht auf Seiten des Arbeitgebers und der Treuepflicht auf Seiten des Arbeitnehmers vorstellen. Losgelöst von der Verpflichtung zur Hausarbeit stellen sich vielfältige Fragen im Zusammenhang mit dem genutzten Equipment, mit Datensicherheit, mit Haftungsfragen bei Nutzung des privaten PC, mit der Kontrolle der Arbeitszeit, der Tauglichkeit des Arbeitsplatzes usw usw.
REWI: Die Rede ist auch immer wieder von einer neuen Sonderbetreuungszeit für Kinder. Unter welchen Voraussetzungen besteht ein Anspruch darauf?
Günther Löschnigg: Ein einseitiger Anspruch des Arbeitnehmers auf diese Sonderbetreuungszeit, die nunmehr auch für die Betreuung behinderter Menschen gilt und im § 18b AVRAG geregelt ist, besteht überhaupt nicht. Einmal mehr geht es um eine Freistellung, die vom Arbeitgeber gewährt werden kann – dh Voraussetzung ist primär eine entsprechende Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien.
REWI: Und die weiteren Voraussetzungen sind?
Günther Löschnigg: Die Sonderbetreuungszeit von bis zu drei Wochen kann nur für Kinder bis zum (vollendeten) 14. Lebensjahr – ab Schließung der Schule oder Kinderbetreuungseinrichtung – geltend gemacht werden. Weiters darf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht für die Aufrechterhaltung des Betriebes erforderlich sein (zB wie im Lebensmittelhandel tätig sein). Die Kinderbetreuungseinrichtung bzw Schule muss aufgrund behördlicher Maßnahmen teilweise oder vollständig geschlossen sein. Vor allem aber darf kein Anspruch auf Freistellung zur Betreuung des Kindes (gegenüber dem Arbeitgeber) gegeben sein.
REWI: Kann es dann überhaupt zu dieser Sonderbetreuungszeit kommen, wenn der fehlende Freistellungsanspruch eine wesentliche Voraussetzung ist?
Günther Löschnigg: Tatsächlich nicht häufig. Denn wenn die Tätigkeit des Arbeitnehmers für die Aufrechterhaltung des Betriebs nicht erforderlich ist, wird der Grund häufig eine Maßnahme im Sinne des COVID-19-Maßnahmengesetzes sein. In diesem Fall gebührt dem Arbeitnehmer – wie erwähnt – eine Entgeltfortzahlung nach § 1155 ABGB bzw kann der Arbeitgeber Urlaube und Zeitausgleich – ebenfalls nach § 1155 ABGB – anordnen.
Sollte es jedenfalls zur Vereinbarung von Sonderbetreuungszeit kommen, erhält der Arbeitgeber ein Drittel des fortgezahlten Entgelts vom Bund refundiert.